TYPOLOGIE DES RENNRADFAHRERS (2): DER LUTSCHER

In einer Gruppe kann nur ein starker Fahrer ein Lutscher sein, dann nämlich, wenn er nicht die Führungsarbeit übernimmt, die seiner Stärke entspricht. Ein schwacher Fahrer hingegen hat geradezu das radfahrerische Grundrecht, sich im Windschatten mitnehmen zu lassen – es ist ihm Arbeit genug. So sind auch im Profilager die Kapitäne, die sich von ihren Helfern durch die Flachetappen ziehen lassen, nichts anderes als Lutscher, sie lassen andere für sich arbeiten, um dann – wenn die Entscheidung in den Bergen oder im Zeitfahren naht – möglichst ausgeruht Stärke zu beweisen.

Aber was interessieren uns die Profis? Was uns interessiert, ist folgendes: Wenn auf freier Strecke plötzlich ein Rennradler von hinten grußlos auffährt und dort kleben bleibt, dann kann man dies innerlich mit wohltemperierten Gedanken kommentieren. Etwa dahingehend, dass der Mann am Hinterrad, der den fremden Windschatten so schamlos nutzt, nicht anderes tut, als in deine Privatsphäre einzudringen, in den Kokon, in dem du in völliger Distanz zur Welt dahinrollst. Man kann dies allerdings auch sehr viel lauter und anschaulicher formulieren, wie dies Teamfahrer UD bisweilen nicht zu unterdrücken versteht. Fährt er gerade als letzter im EQ-Zug und hängt plötzlich ein Fremder an seinem Hinterrad, so beliebt er gern zu fragen: „Ja, habe ich denn einen Magneten montiert?“ „Warum“, fragt es dann zurück. „Weil ich so viel Schrott hinter mir herziehe.“ Das ist, zugegeben, nicht über die Maßen höflich, aber es wirkt. Der Lutscher wird spätestens an der nächsten Kreuzung abbiegen, so grußlos, wie er gekommen ist.

Eine andere, gleichfalls interessante Art, lästige Anhängsel loszuwerden, hat Joseph von Westphalen entwickelt. Zunächst seine Sicht der Dinge: „Entsetzlich sind die anonymen Begleiter. Während man ihn bester Laune von einem Ort zum anderen radelt, tauchen sie aus dem Nichts auf und fahren kilometerweit lautlos dicht hinter einem her. Jedes Gefühl für die natürliche Distanz mißachtend, nutzen sie parasitär den fremden Windschatten zum leichteren eigenen Vorwärtskommen.“ Westphalens Gegenschlag beruht nun nicht, wie bei UD, auf grober Rhetorik, sondern auf konsequentem Handeln. Lutscher, sagt er, ließen sich nur verscheuchen, wenn man sich während der Fahrt eine Zigarette anstecke, was sich in jedem Fall empfehle. Damit werde man nicht nur den Lutscher zuverlässig los, sondern entgehe auch dem Verdacht, man halte Radfahren für gesundheitsfördernd
ursfreulerfan - 26. Mär, 17:42

Eigene Ansichten über Hinterradfahrer!

Nun Heiner, ich bin etwas erstaunt über deinen Bericht. Also ich lerne jetzt, in Deutschland sagt man den Hinterradfahrern «Lutscher». Toller Ausdruck, leicht sexistisch gefärbt. Wie bei uns in der Schweiz, da heisst es im gröbsten Fall: «ein Hinterradwichser» oder ein «Hinterradgöiferi», ein Geiferer.
Den ersten Abschnitt kann ich durchaus unterschreiben, doch dann kommts im zweiten Abschnitt: Huiii, ein Rennradler fährt bei mir auf, und hält sich an meinem Hinterrad auf. Das kratzt mich absolut nicht, ich kann mich ja hinten neben ihn fallen lassen, und ihn fragen, wo er denn hinfahre. Meistens ergibt sich ein gutes Gespräch und man kann sich ja dann darauf einigen, Ablsöungen*) zu fahren. Oder ich fahre stillschweigend eine Ablösung und harre der Dinge, die da kommen werden. Nun passiert folgendes:
1. Der unbekannte Rennradler übernimmt routiniert die Führung, das Rad ruhig haltend, nicht schneller werdend und mit genügend Abstand (1m) vom rechten Strassenrand. Auch zeigt er Hindernisse und andere Gefahren mit Handzeichen an. Das ist der Idealfall;
2. Der unbekannte Rennradler übernimmt die Führung und wird deutlich schneller, aus welchen Gründen auch. Meistens ist es Stress, und das Gefühl, es jetzt zeigen zu müssen was er drauf hat. Solche Hobbygenossen lasse ich dann einfach fahren;
3. Der unbekannte Rennradler wackelt dermassen auf seinem Gestell, dass ich es aus Sicherheitsgründen unterlasse, ihm an die Rolle zu gehen;
4. Der unbekannte Rennradler übernimt die Führung, kehrt sich noch zu mir um zu sagen, das sei ihm viel zu langsam, um dann davon zu preschen. Das musste ich letztes Jahr mal erleben, nachdem er mir eine «russische» Steigung etwa 500 m an der Rolle geklebt hat. Ich verschluckte das unfeine «Arschloch» und lachte einfach. Ich muss einfach feststellen: Die meisten jüngeren Radler kennen das Ablösungenfahren nicht mehr. Sie beherrschen die Technik der Ablösungen nicht, sie kennen es nicht, von wo auch. Viele sitzen viel zu unruhig auf ihren Maschinen, und sind sich dessen nicht einmal bewusst. Ich versuche mich wieder wie in meinem Autofahrerbeitrag so zu verhalten, dass es für mich stimmt. Was der andere macht, geht mich eigentlich nichts an. Schön empfinde ich immer, wenn ich einem fremden Ahnungslosen die Ablösetechnik beibringe und er zu merken beginnt, dass man problemlos +-32 km/h fahren kann, ohne merklich zu ermüden.

*Ablösung fahren:
1. Der Führende blickt nach hinten, um sich zu vergewissern, ob ein Auto kommt;
2. Bei freier Bahn lässt sich der Führende mit einem Schwenker links hinausfallen, um hinten, am «Faden», an der Gruppe wieder anzuhängen. Dabei lässt er seine Beine hängen, um sich kurz zu erholen;
3. Der neue Führende fährt das momentan herrschende Tempo exakt weiter, damit der hinten neu Aufschliessende problemlos an die Rolle kommt. Auf keinen Fall wird der neu Führende schneller, sonst kann es den ganzen «Faden» zerreissen;
4. Der Führende steigert bei Bedarf ganz langsam und fliessend das Tempo, die Ablösungen werden ca. 500 m lang gefahren, bei kleinen Anhöhen und Wellen wird auch abgelöst;
5. Alle Hindernisse, Steine, Fussgänger, parkierte Autos, eigenes Bremsen, etc. werden mit ganz bestimmten Handzeichen nach hinten signalisiert, der Führende lässt «nie», gar nie die Beine hängen, sonst lägen alle ziemlich schnell auf der Nase;
6. Grundregel: Der/die «schwächste» Fahrer/in bestimmt die Pace, so bleibt die Gruppe kompakt und zusammen. Die Vorderräder werden immer leicht versetzt zu den Hinterrädern gefahren. Das Thema Seitenwind käme dann bei Interesse das nächstemal zum Zuge.

Equipe Heiner - 26. Mär, 19:08

Russische Steigung?

Hallo René, ich glaube, du bist echt ein guter Mensch. Lässt dich weder von Autofahrern aus der Ruhe bringen noch von Hinterradgöiferi (schönes Wort, werde ich mir merken). Aber was ist eigentlich eine "russische Steigung"?
ursfreulerfan - 27. Mär, 10:55

Die «russische» Steigung

Das kommt aus den 70/80igern, als ich begann die Technik des Rennradfahren zu erlernen. Ich hörte das Wort von ehemaligen Berufs- oder Eliteamateurfahrern. Ein russischer Berg ist ein kurzer Anstieg, eher eine Welle, auf keinen Fall ein grösserer oder steilerer Berg. Ein Bergli, höchstens. Ein «Russe». Ich nehme an das kommt davon, dass es in Russland keine grösseren Berge gibt. «Russisch» fahren, wellig fahren. «Russisch» heisst auch, dass man den «Russen» auf der grossen Scheibe durchdrücken konnte. Es gab es dazumal Amateurrundfahrten in Polen und in Russland, wo immer wieder Amateurgruppen hingesandt wurden. Berühmt waren auch die Ost-«Collies», die Polen- oder eben «Russengurken», das waren Klebereifen, die bei uns «Collies» (französisch: collé) genannt wurden. Die wurden zu Tiefstpreisen erworben und gehandelt und wurden hier zum Training benutzt. Es gibt so natürlich ein ganzes Wörterbuch von Radlerausdrücken. Man könnte ein kleines Buch damit füllen.

vinzenz - 27. Mär, 13:57

Interessant

Ich finde das ziemlich interessant. Gibt es irgendwo schon so ein Wörterbuch?
ursfreulerfan - 29. Mär, 18:33

Wenn ich der «Lutscher» (Hinterradgöiferi) bin...

...dann muss ich das natürlich auch abhandeln. Also ich bin unterwegs, sagen wir mal alleine am rechten, sonnigen Zürichseeufer (die Goldküste, im Gegensatz zur linken Seite: die «Pfnüselküste»;Pfnüsel, schw.deutsch: Schnupfen). Ich fahre mein «Trittli» (Trittchen) und es ist eben, Meereshöhe von 408 Metern, Geschwindigkeit so zwischen 26 und 28 km/h. Auf einmal höre ich es rauschen von hinten und ein ehrgeizigerer Rennradfahrer (Typ 1) schiesst an mir vorbei, grusslos und entschlossen. Dann durchzuckt es mich, und ich entscheide für mich, ob ich weiter genussgondeln oder mich an die «Rolle» des schon beinahe Enteilten hechten will. Klar ist nur eines: Er hat nicht gegrüsst, also «lutsche» ich mich gnadenlos an. Bis er vom Rade fällt. Wenn er gegrüsst hätte, dann wäre die Situation anders, dann würde ich zu ihm auffahren und ein paar Worte wechseln, wohin und vonwoundsoweiter mit smalltalk. Natürlich immer, wenn er nicht überirdisch schnell wäre, so ein schaukelnder Triathlonist mit «Rheumabügel» oder ein schnell tretender Rennradler oder eher seltener, aber es kommt vor, ein Bergvelofahrer jüngeren Jahrganges mit singenden Reifen. Eine Sorte Rennradfahrer (Typ 2) ist praktisch ausgestorben, die nämlich, die ruhig ihre «pace» fahren, und regelmässige Ablösungen fahren. Wie ich obigen Artikel schon lehrbuchmässig beschrieben habe. Und wie von Geisterhand sich nach hinten fallen lassen um dann gekonnt sich an meine «Rolle» zu heften. Ich beobachtete in letzter Zeit vor allem den Typ 1: Grusslos, stilistisch nicht immer einwandfrei, in die Vollen, nach dem Motto «Nach mir die Sintflut». Alleine so mit cirka 32–34 km/h unterwegs, manchmal auch noch schneller. Manchmal denke ich, dass der Typ 1 von hinten meine BMC-Vollcampi-Maschine erkennt, und dann voll angreift: «Dem will ich es zeigen, dem Materialfreak!» So einem «lutsche» ich wirklich total gnadenlos und merke dann, wie er langsamer wird und sich auch nervös umblickt. Natürlich bin ich vorsichtig, weil solche Typ 1-Fahrer markieren keine Gefahren mit wedelnden Handzeichen, also Vorsicht. Verlieren tue ich die eigentlich nur an den regelmässig auftauchenden Lichtsignalen, die sie bei rot gnadenlos überfahren oder nach Stillstand wild kickend neustarten.
Typ 2 wäre der absolute Kenner, der absolute Rad-Gentleman (älteren Jahrganges), mit dem es zu klassischen Ablösungen kommt. Das gepflegte «Trittli» (Trittchen) , das ökonomische Tempo und ruhig gehaltene Rad lassen ihn unschwer erkennen.
So gibt es auch einen Typ 3, den unerfahrenen Neufahrer, meistens etwas wacklig und unsicher, vielfach einem mit 10 Meter Abstand im Wind folgend. Diese Typ-3 Fahrer quatschen aber gerne und sind jünger und wissbegierig. Ich habe schon manchen in die Geheimnisse der Ablösung eingeweiht, und dabei schon äusserst interessante Zeitgenossen kennengelernt. Manchmal kommt es zu Dankesszenen nach dem umrundeten Zürichsee (mit Damm ca. 70 km) oder einem gemeinsamen Espresso.
Nun studiere ich ob es noch einen Typ 4 und 5 gäbe, doch da müsste ich mich jetzt ziemlich anstrengen.
Bin ich zu elitär, oder denke ich, dass nur meine Art radzufahren die Richtige ist? Ich muss mal in mich, und mein Verhalten äusserst kritisch überdenken.

lasix - 30. Mär, 09:05

Ob Du zu elitaer, aus einer (leider?) vergangenen Zeit oder einfach nur am falschen Dampfer bist werde ich als Typ 3 - Typ 1 (au weh!) Fahrer nicht wagen zu beurteilen.

Aber ich lese auf jeden Fall sehr gerne Deine Kommentare.
Erik Zappel - 30. Mär, 09:39

Mehr davon

"Lese gern deine Kommentare" - ich auch. Mehr davon! Gruß Erik
ursfreulerfan - 30. Mär, 12:13

Bin ich hier der Einzige, der etwas schreibt?

Also wenn ihr so velofährt, wie ihr euch hier verhaltet, dann seit ihr die klassischen «Lutscher». Anstatt selber etwas beizutragen, werden nur dümmliche, kleine Linien verfasst, die absolut nichts aussagen. Obwohl es sind ja auch Komplimente (Danke Erik Zappel!). Doch den Herrn «Lasix» muss ich rügen: also «auf dem falschen Dampfer» bin ich absolut nicht, Lasix weiss anscheinend nichts von der beleidigenden Bedeutung dieses Begriffes. «Auf dem falschen Dampfer» oder «vom andern Ufer», auf solche primitiven Wertungen würde ich gerne verzichten. Wir sind ja nicht hier, um uns zu beleidigen. Schreiben Sie bitte lieber nichts, als einen Quatsch, Herr Lasix. So.

lasix - 30. Mär, 12:46

Hast Du meinen Zeilen eigentlich komplett gelesen bevor Du mich hier ruegst? Ich denke nicht, also lies noch einmal bitte.
Equipe Heiner - 30. Mär, 17:38

Verständigungschwierigkeiten

Tag René, mir scheint, die Verständigung zwischen deutsch und schweizerisch ist nicht ganz so einfach. Da fehlt wohl ein Übersetzungshandbuch. "Auf dem falschen Dampfer" hat in D-Land keinerlei abwertende Bedeutung. Ist nur ein ziemlich abgegriffenes Bild dafür, dass man sich geirrt hat. Mehr nicht. Das zur Ehrenrettung von Lasix. Natürlich können wir nicht auf dem falschen Dampfer sein, wenn wir Rennradfahren, es seid denn, wir würden auf der MS Europa unsere Runden drehen, und wollten das eigentlich auf der Queen Elizabeth tun, aber das passiert - zumindest mir - dann doch nicht so häufig.

Womit du natürlich Recht hast: Die Lese-Lutscherei muss aufhören. Also. Feste schreiben!

WEBLOG zum Buch der Equipe Heiner

Dieses Weblog präsentiert Beiträge aus dem Buch "Ganz großer Sport", herausgegeben der Darmstädter Equipe Heiner. Ideen, Kommentare, Meinungen, Anekdoten dazu sind willkommen.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Steht im Buch
Hallo Hekker, danke für deine ausführlicheren, interessanten...
Equipe Heiner - 17. Apr, 16:36
WARUM HERR G. NIE MIT...
Herr G. ist mal gelaufen. In der Jugend. Ziemlich...
Equipe Heiner - 17. Apr, 08:59
Zufriedenheit und Stolz
Das tönt etwas sehr pathetisch, doch es muss so sein....
ursfreulerfan - 10. Apr, 16:24
Lob und Rück-Lob
Hallo René, erstmal danke für dein Lob. Zum Foto: Welches...
Equipe Heiner - 8. Apr, 10:24
So einfach war's also...
Ich seh schon, da muss man die schweren philosophischen...
hekker - 6. Apr, 11:05

Suche

 

Status

Online seit 6454 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 17. Apr, 16:36

Profil
Abmelden
Weblog abonnieren